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Das unternehmerische Selbst

Zwischen Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung

Das unternehmerische Selbst beschreibt einen Drang zur steten Selbstoptimierung, der kein Ende kennt. Das unternehmerische Selbst ist zur Grundmaxime der derzeitigen Art zu handeln und zu wirtschaften geworden. Der Soziologe Ulrich Bröckling untersuchte dieses neoliberale Leitbild Anfang der 2000er Jahre als einer der Ersten. Bröckling stellte dabei fest, man kann sich dem unternehmerischen Selbst nicht entziehen. Denn es erklärt die Andersartigkeit immer zu einem Verkaufsargument. Trotzdem besteht die Möglichkeit das unternehmerische Selbst für eine sozialere Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen einzusetzen.

Bei der Bewertung von modernen Arbeitsformen, wie dem mobilen Arbeiten, muss immer das derzeitig vorherrschende gesellschaftliche Leitbild des Arbeitenden berücksichtigt werden. Denn je nachdem wie das jeweilig anzustrebende Leitbild aussieht, fällt auch die Bewertung von modernen Arbeitsformen aus.

Die Renaissance des Unternehmers

Entscheidend für die heute vorherrschende Situation ist die Entwicklung nach dem Ende des Kalten Kriegs. So lässt sich im Gefolge des Neoliberalismus seit den 1990er Jahren eine Renaissance des Unternehmers als Gesellschaftsideal ausmachen. Das Streben nach Selbstverwirklichung und wirtschaftlichem Erfolg wurde zum allgemeingültigen Gesellschaftsziel erhoben. Zugespitzt kann man diese Veränderungen zusammenfassen: Das Motto „Handle unternehmerisch!“ ist als Handlungsmaxime der Gegenwart zum neuen kategorischen Imperativ avanciert.

Bröcklings Betrachtungen

Diese neoliberale Entwicklung wurde unter anderem von dem Soziologen Ulrich Bröckling Anfang der 2000er Jahre wahrgenommen und mit dem Begriff des „unternehmerischen Selbst“ beschrieben. Laut Bröckling entsteht das unternehmerische Selbst, indem Gesellschaft und Staat die Herausbildung gewünschter Verhaltensweisen durch entsprechende Belohnungssysteme aktiv fördern.

Bröckling ging es bei seiner Beobachtung weniger um eine Beschreibung des tatsächlichen Verhaltens von Individuen. Das unternehmerische Selbst liefert eine theoretische Analyse, mit deren Hilfe man die Zusammenhänge von Wirtschaft, Gesellschaft und menschlicher Selbstgestaltung deutlich machen kann. Bröckling entwickelt dabei in seiner Theorie den Gouvernementalitätsbegriff von Michel Foucault weiter. Foucault beschrieb mit Gouvernementalität unterschiedliche Erscheinungsformen von neuzeitlichen Regierungen, die darauf abzielen bei Individuen und Kollektiven das Verhalten zu steuern.

Der Selbstständige als Arbeitsideal

Die Entwicklung wurde daher vom Staat mitunterstützt und gefördert. Jener schuf entsprechende Anreizsysteme, welche die Wieder- Eingliederung von Arbeitskräften in den Arbeitsmarkt fördern sollten. Arbeitslose sollten sich als Unternehmer in eigener Sache verstehen. Sie sollten stärker dazu angeregt werden, ihre Arbeitskraft auf den Markt zu tragen und so selbst für ihr Leben und ihre Existenz Verantwortung zu übernehmen.

Das Ideal des Arbeitenden verschob sich somit immer mehr zum Selbstständigen, welcher mit geringer Absicherung und ohne feste Arbeitszeiten arbeitet. Die Vorteile dieser Selbstständigkeit lagen in der Autonomie, nichtentfremdender Arbeit sowie der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Alles Ziele, welche heute in Zeiten von New Work verstärkt angestrebt werden. Jedoch mit dieser Entwicklung wurde auch klar, um erfolgreich als Selbständiger auf dem Markt bestehen zu können, muss der einzelne seinen Marktwert stetig erhalten und immer weiter steigern.

Die Ursprünge in der Ratgeberliteratur

Neben Staat und Gesellschaft unterstützen auch therapeutisches Fachpersonal und andere Berater die Entwicklung des unternehmerischen Selbst, indem sie dem Individuum helfen sich zu verwirklichen. Dadurch lernen Einzelne sich selbst besser zu steuern und können so ihren ökonomischen Erfolg steigern. Diese Entwicklung des unternehmerischen Selbst geschah zuerst im Bereich der Führungskräfte. Später wurde sie vor allem durch Ratgeberliteratur auch auf andere Beschäftigte und schließlich alle Personen und Lebensbereiche übertragen.

Das unternehmerische Selbst

Kurz gesagt bedeutet das unternehmerische Selbst, Menschen sollen Ihr Potenzial entfalten, für sich Selbstverantwortung übernehmen und sich so selbst verkaufen. Um bessere Verkaufsargumente zu schaffen, soll der einzelne seine Einzig- und Andersartigkeit betonen und herausstechende Merkmale unterstreichen. Dieser Prozess der steten Selbstoptimierung kennt jedoch kein Ende. Er muss, um konkurrenzfähig zu bleiben, kontinuierlich ein Leben lang ablaufen. Denn der Einzelne wird das ganze Leben lang bewertet und muss fortlaufend Kompetenzen unter Beweis stellen.

Jedoch auch die dunklen Seiten des Drucks zur unternehmerischen Selbstoptimierung werden immer wieder deutlich. Denn nicht nur Mut zum Risiko und unternehmerisches Geschick sind Teil des unternehmerischen Selbst. Das unstillbare Gefühl „nicht zu genügen“ sowie die stete Angst, falsch oder unzureichend gehandelt zu haben gehören untrennbar zum unternehmerischen Selbst dazu. Die Selbstverwirklichung durch Selbstoptimierung kann unter diesem Leistungsdruck schnell zur Selbstausbeutung verkommen

Man kann sich ihm nicht entziehen

Doch wie kann man diesen Schattenseiten begegnen? Etwa indem man sich der Leistungsgesellschaft verweigert? Das Problem ist, man kann sich dem Ideal des unternehmerischen Selbst nicht entziehen. Dieses Leitbild ist auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt. Und noch wichtiger, gleichzeitig erhebt das Ideal die Andersartigkeit und das Sich Entziehen immer zum einzigartigen Verkaufsargument. So unterwirft es sich immer wieder neu die Andersartigkeit. Selbst die Verweigerung wird so zum ökonomisch wertvollen Alleinstellungsmerkmal erhoben. Man kann daher auch im System keine Gegenposition beziehen.

Die Schattenseiten bekämpfen

Eine mögliche Art des Umgangs liegt vielleicht darin, die Schattenseiten immer wieder anzusprechen und zu veröffentlichen. Zugleich muss man auf die Beseitigung der Schattenseiten drängen, indem man sie mit einem Preis versieht. Das unternehmerische Selbst würde so aus ökonomischen Gründen zu einer Selbsthumanisierung getrieben werden. Die Grundmaxime des unternehmerischen Selbst könnte auf diese Weise dafür eingesetzt werden, Arbeitsbedingungen sozialer zu machen.

Der Artikel ist erstmals als Titelthema in der DGZ 04/2022 erschienen und wurde hier wiederveröffentlicht.

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